Was macht den Dialog von Angesicht zu Angesicht einzigartig? –

Buchbesprechung: Face-to-Face Dialogue: Theorie, Forschung und Anwendungen von Janet Beavin Bavelas

Elfie J. Czerny & Dominik Godat

Face-to-Face Dialogue: Theory, Research, and Applications by Janet Beavin Bavelas
Oxford University Press, 2022, 240 Seiten, ISBN 9780190913366, £74.00 gebunden (Kindle edition erhältlich)

Janet Beavin Bavelas‘ Face-to-Face Dialogue zu rezensieren ist keine leichte Aufgabe – wie kann man das Werk einer Legende auf dem Gebiet der Kommunikation angemessen würdigen? Über sechs Jahrzehnte lang ist Bavelas einer einzigen, tiefgründigen Frage nachgegangen: Was macht den Dialog von Angesicht zu Angesicht so einzigartig? In diesem herausragenden Beitrag zur Kommunikationsforschung, in dem sie ihre jahrzehntelange Forschung auf den Punkt bringt, beantwortet sie diese Frage und zeigt, dass Dialog reicher und kooperativer ist, als wir es gemeinhin annehmen.

Wir hatten im Jahr 2018 das Privileg, zwei Wochen mit Janet Bavelas auf Vancouver Island zu verbringen – eine Begegnung, die uns bis heute beeinflusst und inspiriert. Mit ihrem klaren Blick für das, was in Interaktionen tatsächlich sichtbar geschieht, richtet sie die Aufmerksamkeit weg vom Individuum und hin zu den Handlungen, durch die sich ihre Interaktion Schritt für Schritt entfaltet. Sie erzählte von einem Strandspaziergang mit einem Biologen, der sofort begann, die Krebse, denen sie begegneten, nach Art, Grösse und Merkmalen zu klassifizieren. Janet hingegen sah etwas ganz anderes: die Interaktionen zwischen den Krabben – wie sie sich zueinander verhielten, gemeinsam bewegten und aufeinander reagierten. Diese Perspektive – nicht die Einzelnen, sondern ihre Interaktionen in den Blick zu nehmen – bildet das Fundament ihrer jahrzehntelangen Forschung. In ihren Texten wird sie lebendig und lädt dazu ein, die feinen Abstimmungen in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht neu zu entdecken.

Dieses Buch, das Janet im Entstehungsprozess liebevoll „Daughter of Pragmatics“ nannte (Bavelas, 2018), knüpft an die grundlegenden Ideen an, die in Pragmatics of Human Communication[1] (Watzlawick, Beavin Bavelas & Jackson, 1967) eingeführt wurden – auf deutsch erschienen als Menschliche Kommunikation (1969). In gewisser Weise schliesst sich hier ein Kreis. Doch wie Janet betonte, müssen Töchter nicht unbedingt mit ihren Eltern übereinstimmen. Sie können das geerbte Fundament erweitern, verfeinern und gelgentlich auch hinterfragen. Diese produktive Spannung zwischen Kontinuität und Innovation ist eine der vielen Stärken dieses Buches.

Warum dieses Buch wichtig ist

Dieses Buch, das den Höhepunkt von 60 Jahren Forschung darstellt, hat Bereiche wie Therapie, Coaching, medizinische Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehungen tiefgreifend beeinflusst. Janets Fokus auf den Dialog von Angesicht zu Angesicht macht sichtbar, wie reich das ist, was sich zwischen Menschen von Augenblick zu Augenblick entfaltet. Sie erinnert uns daran, dass diese grundlegende Form der Kommunikation auch in  einer digital geprägten Welt lebenswichtig bleibt.

Das Buch räumt mit verbreiteten Missverständnissen auf – etwa dem Sender-Empfänger-Modell oder der Vorstellung, Körpersprache sei ein eigenständiger Kanal.

Bavelas und ihr Team nutzen die Mikroanalyse unter anderem, um zu zeigen: Kommunikation ist keine lineare Übermittlung von Botschaften, wie es das Sender-Empfänger-Modell suggeriert. Sie ist ein fein abgestimmter, fortlaufender Prozess – ein kontinuierliches Kalibrieren, bei dem sich Gesprächspartner:innen gegenseitig anpassen, abstimmen und ein gemeinsames Verständnis aufbauen. Im Gegensatz zum Sender-Empfänger-Modell entfaltet sich das Kalibrieren in schnellen, sich überschneidenden Drei-Schritt-Sequenzen, wobei Sprecher:in und Zuhörer:in das Gespräch aktiv gemeinsam gestalten. Das Verstehen wird nicht empfangen, sondern gemeinsam erreicht, was den Dialog von Angesicht zu Angesicht hochgradig effizient und interaktiv zugleich macht.

Dieses Buch ruft dazu auf, Interaktionen zu beobachten. Bavelas fordert uns heraus, traditionelle Annahmen darüber, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht, hinter uns zu lassen – und den Blick stattdessen auf das zu richten, was Menschen tatsächlich gemeinsam tun. Dieser Perspektivwechsel zeigt den Dialog von Angesicht zu Angesicht als einen kollaborativen, dynamischen Prozess.

Aufbau des Buches

Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert, die den Untertitel des Buches widerspiegeln: Theorie, Forschung und Anwendungen.

  • Teil I: Changing the Focus hinterfragt individualistische Sichtweisen auf Kommunikation, rückt Interaktionen und redebegleitende Gesten ins Zentrum und versteht verschiedene Forschungsmethoden als sich ergänzende oder konvergierende Erkenntnisquellen.
  • Teil II: Inside Face-to-Face Dialogue untersucht die besonderen Möglichkeiten der Face-to-Face-Kommunikation – etwa schnelle, teils gleichzeitige Reaktionen und den Einsatz sichtbarer Ressourcen wie Gesten, Blicke und Gesichtsausdruck zur Feinabstimmung des gegenseitigen Verständnisses.
  • Teil III: Dialoge in Applied Settings wendet die Mikroanalyse auf Kontexte wie computervermittelte Kommunikation, Autismus, medizinische Konsultationen und Psychotherapie an und zeigt, wie diese Forschung die Praxis informiert und verbessern kann.

Jeder Teil ist reich an Beispielen und Metaphern, die sichtbar und begreifbar machen, was in Gesprächen geschieht. Die Videodemonstrationen auf der begleitenden Website – kommentiert von der langjährigen Mitarbeiterin Sara Healing – verleihen dem Buch eine zusätzliche Dimension: Sie machen die Forschung sichtbar und ermöglichen ein unmittelbares, nachvollziehbares Verständnis zentraler Konzepte. Wer sich auf dieses Buch wirklich einlässt, wird mit Erkenntnissen gehen, die nicht nur das Verständnis von Kommunikation vertiefen, sondern auch das eigene Tun und Mitgestalten in Gesprächen – und im gemeinsamen Handeln mit anderen im Alltag – nachhaltig verändern können. Und genau darin liegt seine Wirkung: in der Verbindung von Forschung, Reflexion und alltäglicher Relevanz.

Was dieses Buch besonders macht

Janet Bavelas‘ Fähigkeit, komplexe Ideen in klare Worte zu fassen, ist bemerkenswert. Sie verbindet theoretische Tiefe mit praktischer Relevanz und eröffnet Einsichten, die Praktiker:innen helfen, ihre Arbeit gezielter und bewusster zu gestalten. Dieses Buch ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern ein Begleiter, den man immer wieder zu Hand nimmt und der bei jeder Lektüre neue Perspektiven eröffnet.

Wer sollte dieses Buch lesen?

Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für Kommunikation interessieren – Wissenschafter:in, Praktiker:in und aufmerksame:r Beobachter:in des Alltags.

  • Wissenschafter:innen erhalten einen umfassenden Überblick über die Interaktionsforschung und konkrete Anleitungen für die Konzeption eigener Studien.
  • Praktiker:innen finden Ressourcen, um ihre Wahrnehmung für das, was in Dialogen geschieht, zu schärfen und ihre Beschreibungen präziser zu gestalten.
  • Alle, die ihre Kommunikationsfähigkeiten vertiefen wollen, entdecken eine Linse, durch die sich Gespräche gezielter beobachten und verbessern lassen.
  • Und wer sich für eine interaktionelle Perspektive interessiert, erhält nicht nur theoretische Anregungen, sondern Zugang zu beobachtbarer Evidenz – und damit die Möglichkeit Interaktionen differenziert zu sehen und zu analysieren.

Der Wert für die lösungsfokussierte Praxis

Eine gemeinsame Faszination für Sprache, nicht für den Verstand, verband Janet Bavelas, Steve de Shazer und Insoo Kim Berg. Ihre Zeit am Mental Research Institute (MRI) mit John Weakland als Mentor spiegelt ihr gemeinsames Engagement wider, zu erforschen, wie wir Bedeutung und Veränderung durch Interaktionen ko-konstruieren.

Janets Forschung macht die interaktionale Sichtweise von Kommunikation für lösungsfokussierten Praktiker:innen sichtbar und nutzbar. Ihre Forschung bietet einen Rahmen, um Moment für Moment zu beobachten, was tatsächlich in Gesprächen geschieht, und aus diesen Beobachtungen zu lernen. Indem sie die zentrale Rolle der Sprache bei der Ko-Konstruktion von Bedeutung hervorhebt, hat ihre Arbeit die Glaubwürdigkeit der lösungsfokussierten Praxis erheblich gestärkt.

Was uns betrifft, so hat die Mikroanalyse des Face-to-Face-Dialogs unsere Praxis grundlegend beeinflusst (Czerny & Godat, 2024). Dank der Mikroanalyse sehen wir, dass Gespräche immer gemeinsam ko-konstruiert werden – von Millisekunde zu Millisekunde. Das bedeutet: Wir tragen stets Mitverantwortung dafür, wie sich ein Gespräch entwickelt. Ob wir wollen oder nicht – wir beeinflussen, was geschieht. Oder wie Janet es formuliert: „Interaktion bedeutet Einflussnahme, und die einzige Wahl ist, wie.“ (Bavelas, McGee, Phillips & Routledge, 2000, S. 10)

Dank der Mikroanalyse von Face-to-Face-Gesprächen wissen wir genauer, wie diese Einflussnahme geschieht – etwa durch Fragen, Formulationen, Zuhören oder Themenwahl. Die Mikroanalyse liefert konkrete Einblicke in die Funktionsweise dieser Elemente und ermöglicht ein klareres Verständnis ihrer Rolle bei der Gestaltung des Dialogs. Dadurch wird es möglich, Gespräche differenzierter zu beobachten – mithilfe von Videoanalysen oder sogar direkt in Gesprächen. Für uns – und für jene, mit denen wir in Schulungen, Supervisionen oder Mentor-Coachings arbeiten – bedeutet das ein geschärftes Bewusstsein für die Moment-für-Moment-Ko-Konstruktion von Bedeutung in Gesprächen – also dafür, wie Gespräche sich fortlaufend im Miteinander formen.

Abschließende Gedanken

Mit Face-to-Face Dialogue hinterlässt uns Janet Bavelas mehr als ein Buch – sie hinterlässt ein Vermächtnis. Es ist der Höhepunkt jahrzehntelanger Forschung und ein kraftvolles Zeugnis für die Bedeutung des Dialogs von Angesicht zu Angesicht.

Dieses Buch ist ein Muss für alle, die den Tanz des Dialogs verstehen wollen. Es vertieft nicht nur unsere Wertschätzung für den Dialog von Angesicht zu Angesicht, sondern fordert uns auch dazu auf, die gemeinsame Konstruktion von Bedeutung bewusster zu gestalten. Für alle, die Janets Arbeit bereits kennen, ist dieses Buch ein Geschenk – es inspiriert und bereichert unsere Praxis weit über das Lesen hinaus. Für alle anderen ist es eine Einladung, Dialog als einen tiefgreifenden, kollaborativen Prozess zu erkunden, der von Augenblick zu Augenblick gemeinsam konstruiert wird.

Die Rezensentin und der Rezensent

Elfie J. Czerny und Dominik Godat sind InteraktionalistInnen und lösungsorientierte PraktikerInnen mit Sitz in der Schweiz und international tätig. Ihre Arbeit verbindet die Mikroanalyse von Face-to-Face-Gesprächen mit lösungsfokussierter Praxis – etwa in Lehre und Coaching sowie in der Team- und Führungskräfteentwicklung.

Ursprüngliche Publikation der Buchbesprechung:

Journal of Solution Focused Practices

Czerny, E. J., & Godat, D. (2025). Face-to-Face Dialogue: Theory, Research, and Applications by Janet Beavin Bavelas. Journal of Solution Focused Practices, 9(1), 62–66. https:/​/​doi.org/​10.59874/​001c.129963

https://journalsfp.org/article/129963-face-to-face-dialogue-theory-research-and-applications-by-janet-beavin-bavelas

Quellen

Bavelas, Janet B. (2022). Face-to-Face Dialogue: Theory, Research, and Applications. New York: Oxford University Press.

Bavelas, Janet B. (2018). Seeing interaction: Interview with Janet Bavelas. In Elfie J. Czerny & Dominik Godat (Eds.), Simply Focus Podcast (Episode 10). Retrieved from https://www.sfontour.com/project/sfp-10-seeing-interaction-interview-with-janet-beavin-bavelas/

Bavelas, Janet B., McGee, Dan, Phillips, Bruce & Routledge, Robin (2000). Microanalysis of communication in psychotherapy. Human Systems, 11(1), 3-22.

Czerny, Elfie J., Godat, Dominik (2024). How has Microanalysis influenced our SF practice? What we do differently and how we talk differently about what we do. Online: https://www.sfontour.com/wp-content/uploads/2024/07/How-has-Microanalysis-influenced-our-SF-Practice.pdf

Watzlawick, Paul, Beavin Bavelas, Janet, & Jackson, Don D.  (1967). Pragmatics of human communication: A study of interactional patterns, pathologies, and paradoxes. New York: Norton.

Watzlawick, Paul, Beavin Bavelas, Janet, & Jackson, Don D. (1969). Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber.


[1] deutscher Titel: “Menschliche Kommunikation”

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