Dies ist eine Buchrezension, publiziert hier: Journal of Solution Focused Practicies, Volume 6, Issue 2

 

Johanna Kiniger: Schulverweigerung als Entwicklungschance? Ein systemisch-lösungsfokussierter Ansatz – Das Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung.

 

Johanna Kiniger Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg), 2021, 199 Seiten, ISBN 978-3849790493, €22.95 (e-book available)

 

Rezension von Katalin Hankovszky Christiansen

 

Am Anfang dieser Buchbesprechung standen die Tränen einer Lehrperson. Sie suchte verzweifelt -wieder einmal- ihren Handlungsspielraum, wenn es darum ging, einem talentierten Jugendlichen beizustehen und ihn wieder in die Schule zu befördern. Oder zu locken. Oder zu zwingen. Oder was auch immer. Schwer festzustellen, wann sind die eigenen Möglichkeiten als Lehrperson erschöpft, wann bleibt wirklich nichts mehr als die persönliche Sorge um einen jungen Menschen übrig.

 

Bereits der Titel, den Johanna Kiniger wählt, bringt einen in Bewegung, in dialogisches Ringen mit Fragezeichen und scheinbarem Oxymoron. Auch der Untertitel mit Neun-Phasen-Modell lässt aufhorchen, handlungsanleitende Prozesse, die mehr Phasen als ich Finger an einer Hand habe… und auch die im Deutschsprachigen Raum so verbreitete Beschreibung ’systemisch-lösungsfokussiert’ verspricht Komplexität… Beglückend ist bereits, dass eins der Vorworte von «Max», einem Schulverweigerer stammt, ihm gehört auch das Schlusswort– die Hoffnung kommt bereits beim Überfliegen auf, weil «Betroffene» hier eine Stimme bekommen.

 

Das Buch ist die Publikation einer Forschungsarbeit, die 2019 die Forschungsförderung von Austrian SolutionCircle erhalten hatte und welche auf der Masterthesis der Autorin beruht.

Johanna Kiniger liefert eine umfangreiche Literaturanalyse zur Klärung des Begriffes und überblickt Zugänge zu Schulverweigerung. Ablaufmodelle und sonstige Abbildungen helfen dem Intellekt, mitzuhalten. In kurzen Skizzen (Kapiteln 8-11) erscheinen die Ideen und der Ansatz der Autorin, Lösungsfokussierung für ihre Forschung nutzbar zu machen. Sie verwendet dabei den im deutschsprachigen Gebiet häufigen Ausdruck «Systemisch-lösungsorientierter Ansatz» und erarbeitet ein zweckmässiges, pragmatisches Bild von Beratung, Coaching und qualitativer Forschung. Die Autorin unterlässt an dieser Stelle eine kritische Diskussion der herangezogenen Begrifflichkeit, jedoch ihr detailliert beschriebenes Vorgehen und Ergebnisse der Forschung illustrieren wirksam das gewählte Konzept. Dies ist wohl für lösungsfokussierte Praktiker:innen befriedigender als für solche, die an einem trennscharfen Erfassen der Strömungen im lösungsfokussierten Ansatz interessiert sind.

In der qualitativen Forschungsarbeit richtet Johanna Kiniger den Fokus auf das Fernbleiben der Jugendlichen als Bewältigungshandeln. Die Fragen des Leitfadeninterviews entstanden in Zusammenarbeit mit drei Schulverweigerer:innen. Trotz und bei der Verwendung einer eigens erarbeiteten Phasenmodells setzt die Autorin im Interview auf lösungsfokussierte Fragen: «Lösungsfokussierte Fragen regen individuelle Lösungswege an und eröffnen neue Zugänge, Herangehensweisen und Perspektiven» (Bamberger 2015, S. 72, zitiert von Kiniger, S. 99)

 

Das reiche Zitatenmaterial (Kapiteln 15-16) lässt die Stimmen der Schulverweigerer:innen hörbar werden und «Lösungswege, Bewältigungsstrategien und neue individuelle Lösungen»  treten in Vorschein.

Die Gespräche zeigen, dass Schulverweigerer:innen zunehmend lernten, ihren Fokus auf Wirkungsvolles oder gut Funktionierendes zu lernen, dass sie Zukunftsbilder entwickelten und daraus Hoffnung schöpfen konnten. Ihr Bedarf an Beratung, Coaching und sonstige Gespräche wuchs und sie verstanden, solche in Anspruch zu nehmen. Besonderheit dabei ist, dass ehemalige Schulverweigerer:innen als Gesprächspartner:in gefragt sind. Unter den individuellen Bewältigungsversuchen wird häufig erwähnt, dass der eigene Lebensrhythmus hilfreich ist, sowie Möglichkeiten zu finden auf Distanz zu gehen. Viele nutzen die Zeit für kreative Tätigkeiten und experimentieren gezielt mit Provokation oder Reisen.

 

Die Autorin listet detailliert die Kompetenzen auf, welche die Interviewpartner:innen in den Zeiten ihrer Schulverweigerung entwickelten. Die Lebenskompetenzen beschreibt Johanna anhand den 10 Kernkompetenzen des WHO und fügt noch Sach- und Methodenkompetenzen zu.

 

Die Lösungsvisionen, welche aus den Interviews sich ergeben, erscheinen mir besonders anregend:

  • Veränderung des Schulsystems und der Curricula
  • Fächerübergreifendes Fach «Lösungskompetenz»
  • Mehr systemisch-lösungsorientierte Beratung und Kurzzeitcoaching
  • Vernetzte Prävention, Intervention und Rehabilitation
  • Unterstützer*innengruppen an den Schulen mit externen Expert*innen
  • Partizipation, Mitbestimmung und Mitarbeit
  • Expertentum durch gewonnene (Lebens)erfahrung
  • Veränderungen im Unterricht z.B. hin zu mehr Flexibilität und Agilität
  • Systemisch-lösungsfokussierter Entwicklungskoffer und Plattform für Schulverweigerer*innen (Kiniger S. 176.-179)

 

Gut zu wissen, dass die Autorin in diesem letzten Punkt noch weiter arbeitet.

 

Wenn man Fazit und Zusammenfassung der Autorin liest (S. 160-184), entsteht die Hoffnung, dass «Schulverweigerung» tatsächlich das sein kann: eine «Gegebenheit, dass ein Jugendlicher oder ein Kind nicht zur Schule geht und dieses Verhalten nicht den Erwartungen des Systems entspricht» (Rotthaus 2019, S.112, zitiert von Kiniger S. 81) und dies zur Neuverhandlung von Erwartungen und Neugestaltung von Handlungsmöglichkeiten genutzt werden kann.

 

Dieses Buch ist eine Ermutigung für Lehrpersonen, Schulsozialarbeiter:innen oder auch Eltern, welche Schulverweigerer:innen unterstützen möchten. Der Interviewleitfaden selbst könnte eventuell auch bei Gesprächen mit den Kindern/Jugendlichen hilfreich sein, welche aktuell die Schule meiden. Im Sinne der Prävention ist dies ein Buch auch für Schulgemeinschaften, damit sie ihre Praxis von Mitbestimmung überdenken und die Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten für alle erweitern können.

 

 

Katalin Hankovszky Christiansen, Solutionsurfer, Coach, Weiterbildnerin von Lehrpersonen

Christiansen, Katalin Hankovszky (2022) „Truancy as an Opportunity for Development? A Systemic Solution-Focused Approach – The Nine-Phase Model of Truancy -Written by Johanna Kiniger,“ Journal of Solution Focused Practices: Vol. 6: Iss. 1, Article 11.
Available at: https://digitalscholarship.unlv.edu/journalsfp/vol6/iss1/11

Hinterlassen Sie eine Antwort